Lebst Du noch oder funktionierst Du schon?

Kürzlich habe ich in einem Podcast etwas gehört, das bis heute immer wieder auf vielen verschiedenen Ebenen in mir resoniert. Sinngemäß lautete das Gehörte wie folgt:

Stell Dir vor, Du stehst nur wenige Schritte vor einem soliden Holzstuhl. Schwer und massiv, mit schönen Maserungen. Gut verarbeitet aber hier und da von kleinen Unebenheiten und Kratzern gezeichnet. In Deiner Hand ein scharfes Messer. Du gehst zu dem Stuhl und nimmst den typischen Holzgeruch wahr. Stell Dir nun vor, Du schnitzt mit Deinem Messer ein kleines Stück des Stuhls ab. Und … noch immer steht ein Stuhl vor Dir. Du wiederholst diesen Vorgang – mit dem gleichen Ergebnis. Immer und immer wieder schnitzt Du ein Stück des Stuhls mit deinem Messer ab. Bis … irgendwann … kein Stuhl mehr vor Dir steht, er nicht mehr als solcher erkennbar geschweige denn nutzbar ist.

Und nun die große Frage: Wann hörte der Stuhl auf, Stuhl zu sein? Mit welchem Schnitzer verlor er das, was ihn zum Stuhl macht?

Was passiert, wenn wir nur noch funktionieren?

In meinem Kopf entstanden seitdem viele Assoziationen und Fragen. Eine davon: Wie weit können wir (z.B. in puncto Stress) gehen, ohne uns zu verlieren? Bis zu welchem Punkt bleiben wir wir selbst, bis zu welchem Punkt spüren wir uns noch und ab wann funktionieren wir nur noch. Sicherlich wurden diese Überlegungen auch von Gesprächen mit Klient*innen geprägt, die aus verschiedenen Gründen den tiefen emotionalen Kontakt zu sich selbst in Teilen oder sogar in Gänze verloren hatten. Der Multikrisenmodus der letzten Jahre spielte hierbei natürlich oft eine nicht unbedeutende Rolle. Ich nehme einmal mehr wahr, dass viele Menschen im altbekannten Hamsterrad laufen – und das schon sehr lange. An einen kurzen geschweige denn längeren Ausstieg aus diesem Rad ist aufgrund fehlender Zeit nicht zu denken. Dabei bräuchte es genau diesen, um sich wieder spüren zu können, um die Perspektive des Beobachters im Hinblick auf das eigene Verhalten einzunehmen. Nur weil Dinge funktionieren heißt dies nicht, dass damit keine Kosten verbunden sind. Aus Stress-Perspektive erhöht sich in diesem Zustand meist sukzessive die sogenannte allostatische Last. Auch ein Blick auf die Burn-Out-Uhr verrät, dass bis zum Zusammenbruch all das funktioniert, was funktionieren muss. Und das sind in der Regel der Beruf sowie die Kinderbetreuung, falls wir eine Familie gegründet haben. Am Ende muss das funktionieren nicht zwangsläufig zum Zusammenbruch führen. Wir können uns auch dauerhaft in einem latent chronischem Stress-Zustand befinden, der von zahlreichen Spannungsfeldern geprägt ist. Ein sehr unangenehmer Zustand, den viele von uns mindestens temporär kennen werden.

Buchtipp: Derzeit lese ich hierzu das Buch „Burn on – Immer kurz vorm Burn out“ von Prof. Dr. Bert te Wildt und Timo Schiele, das Ihr bei Interesse im Buchladen Eures Vertrauens kaufen könnt. Empfehlen kann ich es auf jeden Fall.

Doch wie erwähnt kommt dieser Zustand auf Dauer mit einem Preis. Denn die Auswirkungen von chronischem Stress sind so zahlreich wie schwerwiegend. Hierbei ist Cortisol das Schlüsselhormon. Etwas überspitzt gesagt, ist es eine körpereigene Droge, die körperliche, aber vor allem kognitive Leistungsfähigkeit sicherstellt. Wie? Indem Cortisol dauerhaft einen überwachen, sogenannten hypervigilanten Zustand in unserem Gehirn erzeugt und gleichzeitig dafür sorgt, dass unserem Gehirn das notwendige Plus an Energie zur Verfügung gestellt wird. Unter anderem durch katabole Prozesse wie den Abbau der eigenen Muskulatur. Das ist übrigens auch ein Grund dafür, warum Muskelaufbau unter übermäßigem Stress sehr schwer zu erreichen ist – das aber nur als Randnotiz.

Lesetipp: Wenn Ihr genau wissen wollt, wie Cortisol bei Euch wirkt und was das Ganze mit den sogenannten Stresstypen zu tun hat, empfehle ich Euch meinen Artikel „Wie chronischer Stress zu Übergewicht und Krankheit führt“ zu lesen.

Das Leben im dauerhaften Funktionieren-Müssen geht meist Hand in Hand mit chronischem Stress – nicht zuletzt, weil Fremdbestimmung einer der größten Auslöser für Stress ist. Und wo das „Müssen“ zum unausweichlichen Imperativ wird, da liegt Fremdbestimmung inhärent vor. Leider führt gerade dieser Stresszustand, in dem wir voll darauf fokussiert sind, unsere alltäglichen Probleme zu lösen, dazu, dass wir die Warnsignale unseres Körpers und Geistes übersehen oder ignorieren (wollen). Es entsteht eine Art Tunnelblick, in dem wir uns darauf konzentrieren, die anstehenden Aufgaben zu bewältigen, ohne uns bewusst zu sein, dass dies auf Kosten unserer eigenen Gesundheit und Wohlbefinden geht.

Ein Zitat von Ullrich Schaffer, dass mir jedes Mal eine Gänsehaut verpasst, beschreibt diesen Umstand wie folgt:

„Geh Du vor“, sagte die Seele zum Körper, „auf mich hört er nicht. Vielleicht hört er auf Dich.“ „Ich werde krank werden, dann wird er Zeit für Dich haben.“, sagte der Körper zur Seele.

Dieses Zitat lässt mich Krankheiten mittlerweile in einem anderen Licht sehen. Denn ich gehörte ebenfalls lange zu den Menschen, die Anzeichen ignorieren und es sich nicht erlauben, krank zu sein. Kleiner Spoiler: Auch das kommt – früher oder später – mit einem Preis.

Zuletzt möchte ich an dieser Stelle noch einige Punkte anführen, die die Problemstellung des Funktionierens noch weitergehend erklären bzw. beschreiben:

Adaptation an den Stress
Menschen sind erstaunlich anpassungsfähig, was sowohl ein Segen als auch ein Fluch sein kann. Wenn wir uns über einen längeren Zeitraum hinweg hohem Stress aussetzen, kann sich unser Körper, wie oben erwähnt, an diesen Zustand anpassen. Was anfangs als belastend empfunden wird, wird schließlich als Normalzustand wahrgenommen und akzeptiert, sodass wir die schleichenden Veränderungen nicht mehr erkennen.

Funktionieren als Überlebensmechanismus
Das Funktionieren auf Autopilot wird oft zu einem Überlebensmechanismus. In einem hektischen Alltag und angesichts zahlreicher Verpflichtungen ist es oft einfacher, einfach weiterzumachen, ohne sich Zeit für Selbstreflexion zu nehmen. Der Gedanke, innezuhalten und sich die eigenen Gefühle bewusst zu machen, erscheint in solchen Momenten als Luxus, den wir uns nicht leisten können. Auch kann bewusst oder unbewusst Angst im Spiel sein, dass in der Ruhe die inneren Stimmen lauter werden, die im Geschäftig Sein erfolgreich unterdrückt werden können.

Selbsttäuschung und Verleugnung
Es kann auch eine Art Selbsttäuschung und Verleugnung entstehen, bei der wir die eigene Belastung herunterspielen oder gar nicht erkennen. Dies geschieht oft aus Angst vor Konsequenzen oder dem Gefühl, dass es keine Alternative zum aktuellen Lebensstil gibt. Dieses Verhalten erlebe ich sehr oft bei Klient*innen. Das zeigt sich vor allem dadurch, dass diese mit kleinen Themen zu mir kommen und sich im Laufe des Coachings zeigt, welche enorme Tragweite und Tiefe das Ganze hat. Die Erkenntnisse und Eingeständnisse können mit unter sehr bewegend und intensiv sein.

Kulturelle und soziale Erwartungen
Die Gesellschaft und berufliche Umfelder können oft Druck ausüben, der uns bewusst oder unbewusst dazu bringt, ständig zu funktionieren. Die Erwartungen an Produktivität und Leistung können dazu führen, dass wir unsere eigenen Bedürfnisse vernachlässigen und Stresssymptome ignorieren, um dem gesellschaftlichen Ideal des Funktionierens gerecht zu werden.

Verlust der Selbstwahrnehmung
Die ständige Anpassung an den Stress und das stetige Funktionieren können, wie weiter oben bereits erwähnt, zu einem Verlust der Selbstwahrnehmung führen. Wir verlieren den Kontakt zu unseren Emotionen, Bedürfnissen und körperlichen Signalen, da der Fokus auf der Erfüllung externer Anforderungen liegt.

Wo stehe ich in puncto Stress gerade?

Noch einmal zurück zur Ausgangsfrage: Lebst Du noch oder funktionierst Du schon? Haben wir, wie oben beschrieben Scheuklappen auf, ist es der erste Schritt, Maßnahmen zu ergreifen, um wieder Kontakt zu sich selbst herzustellen. Es erfordert oft große Anstrengungen, sich aus dem Funktionieren zu lösen und die eigene Gesundheit und Zufriedenheit (wieder) in den Fokus zu rücken. Um zu ergründen, an welchem Punkt Du diesbezüglich stehst, kommen zum Beispiel die folgenden Maßnahmen in Frage:

Selbstreflexion und Tagebuchführung
Nimm Dir regelmäßig Zeit, um über Deinen emotionalen Zustand nachzudenken. Führe ein Tagebuch, in dem Du deine Gedanken und Gefühle festhältst. Dies ermöglicht es Dir, Muster zu erkennen und Veränderungen im eigenen Verhalten zu verfolgen. Vielleicht erstellst Du Dir im ersten Schritt auch eine Stresslandschaft, um dich dem Thema zu nähern. Die entsprechende Vorlage findest Du in meinen Tools.

Körperliche Anzeichen beobachten
Chronischer Stress hat zahlreiche psychische aber auch physische Auswirkungen. Was die körperlichen Symptome angeht: Achte auf Symptome wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Magenbeschwerden, hohen Blutdruck und innere Unruhe. Diese können Indikatoren für erhöhten Stress sein. Ein bewusstes Wahrnehmen dieser Anzeichen ermöglicht es Dir, frühzeitig gegenzusteuern.

Ersetze Müssen durch Wollen
Ersetze in deinem täglichen Gebrauch das Wort „Müssen“ durch das Wort „Wollen“. Und horch in dich hinein. Wir neigen dazu alles, was wir tun pauschal mit einem „Müssen“ einzuleiten. Finde heraus, an welchen Stellen es mit einem guten Gefühl durch ein „Wollen“ ersetzt werden kann. Zum Beispiel: Statt „Ich muss zu Sport.“ – „Ich will zum Sport.“ Je mehr tatsächliches Müssen, desto mehr befindest Du dich im Funktionieren-Modus.

Feedback von Vertrauenspersonen einholen
Fragt Freunde, Familie oder Kollegen nach ihrer Wahrnehmung eures Verhaltens. Manchmal können Außenstehende Veränderungen schneller erkennen als man selbst. Ein offenes Gespräch darüber kann aufschlussreich sein. Und Breaking News: Du darfst das eine oder andere auch glauben und musst nicht dogmatisch an deinem eigenen Narrativ festhalten. Leider wissen andere manchmal sogar besser als wir selbst, was gerade nicht so gut läuft.

Einfach mal nichts tun
Das hört sich vielleicht komisch an, aber versuche hin und wieder einfach mal wenige Minuten nur zu sein. Kein TV, kein Social Media, kein Podcast. Einfach nur sein. Versuche nicht die oben genannten, negativen körperlichen Signale zu spüren, sondern deinen Körper per se. Wir sind ständig nur in unserem Kopf – spüren unseren Körper nur, wenn er schmerzt. So sind wir nicht in der Lage zu erspüren, ob wir gestresst sind bzw. uns im Funktionieren-Modus befinden.

Was kann ich gegen Stress tun?

Hier gibt es natürlich eine sehr große Auswahl an Maßnahmen, die auf den drei Ebenen des Stressgeschehens ergriffen werden können. Um den Artikel nicht zu sprengen daher an dieser Stelle nur eine Handvoll.

Bewegung und Sport
Körperliche Aktivität ist ein effektiver Weg, Stress abzubauen. Ob Spazierengehen, Laufen oder Yoga – finde eine Bewegungsform, die zu Dir passt und integriere sie regelmäßig in Deinen Wochenplan. Sei Dir aber darüber bewusst: körperliche Aktivität dient vorwiegend dem Abbau, von bereits entstandenem Stress. Vorbeugung findet an anderer Stelle statt.

Erkenne Deine Bedürfnisse
Oft sind wir uns unserer eigenen Bedürfnisse nicht bewusst. Es gibt eine wichtige Frage, die wir uns regelmäßig stellen sollten, um ein stressreduzierteres Leben zu führen: Was brauchte ich (jetzt gerade)? Hast Du Dir diese Frage schon einmal gestellt? Sie zu beantworten kann sehr schwierig sein, insbesondere dann, wenn wir im Alltag nur fremdbestimmt funktionieren.

Achtsamkeitsübungen
Integriere regelmäßige Achtsamkeitspraktiken wie Meditation oder Atemübungen in Deinen Alltag. Diese können dazu beitragen, den Geist zu beruhigen und den Fokus auf das Hier und Jetzt zu lenken. Ich kann kaum fassen, wie viele Menschen noch nie in ihrem Leben meditiert haben. Ganz ehrlich: Das ist die einfachste und effektivste Maßnahme! Falls es Dir schwer fällt, nutze Apps wie Head Space, Balloon oder 7Mind.

Grenzen setzen
Lerne, Nein zu sagen und setze klare Grenzen in Deinem beruflichen und persönlichen Leben. Die Fähigkeit, die eigenen Grenzen zu kennen und zu respektieren, trägt dazu bei, Überlastung zu vermeiden. Ich weiß, wir haben das nie gelernt, aber wer Nein zu anderen sagt, sagt Ja zu sich selbst.

Zeit für Selbstfürsorge
Plane bewusst Zeit für Dich selbst ein. Ob es ein entspannendes Bad, ein gutes Buch oder einfach eine Pause zum Durchatmen ist – sorge dafür, dass Du regelmäßig Momente der Erholung genießt. Wenn Du wenig Zeit hast, zum Beispiel, weil Arbeit und Kinderbetreuung Dir immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen, dann plane einfach ganz gezielt sehr kurze Pausen (z.B. 10 Min. täglich) ein. Wichtiger als die Dauer ist im ersten Schritt die Regelmäßigkeit und Konsequenz in der Umsetzung.

Ich hoffe diese Auswahl an Maßnahmen zur Erkennung von Stress und die genannten Mittel zur Stressbewältigung helfen Dir, einen bewussteren Umgang mit deinem Wohlbefinden zu entwickeln. Das Leben ist zu kurz – und zu schön – um nur zu funktionieren und sich selbst aus den Augen zu verlieren. Der Weg zu einem ausgeglichenen Leben beginnt mit der Achtsamkeit für die eigenen Bedürfnisse und der Fähigkeit, aktiv gegen den Stress anzugehen. Ich wünsche Euch dabei viel Erfolg!

Gern begleite ich Dich auf dem Weg raus aus dem Funktionieren und hinein ins Leben – lebendig sein und fühlen. Kontaktiere mich einfach für ein erstes unverbindliches Beratungsgespräch und wir schauen, was Dein Anliegen ist und wie ein Stresscoaching für dich aussehen kann!

2 thoughts

  1. Hey Claudio,sehr guter Artikel! Trifft genau meinen Nerv derzeit. Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll. Einiges mache ich schon. Aber nichts h

    1. Hey! Das freut mich – also, dass ich da ein für dich relevantes Thema aufgegriffen habe. Damit bist Du meines Erachtens in „guter“ Gesellschaft. Das ist natürlich ein riesiges Handlungsfeld. In meinem Artikel habe ich nur einige wenige Impulse geben können. Meld dich gern einfach bei mir, wenn ich Dir helfen kann bzw. Du vielleicht einfach mal unverbindlich sprechen magst. Liebe Grüße – Claudio

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